Interview mit Christian Hofstetter geführt von Urs Heinz Aerni, erschienen in „Züri-West“


Urs Heinz Aerni:
In Ihrem ersten Buch "Splitter" veröffentlichen Sie acht Kurzgeschichten und fünzig Gedichte. Welche Schreibform fällt Ihnen leicher?

Christian Hofstetter:
Gedichte sind für mich Experimentierfelder. Da kann ich mit den Wörtern spielen, mit der Verknappung der Sprache arbeiten, Momentaufnahmen skizzieren, oft untermalt mit Paradoxien. Das Schreiben einer Geschichte ist dagegen wesentlich durchdachter, da feile und arbeite ich oft viel länger. Deshalb fällt mir das Schreiben von Gedichten leichter, da ich bei dieser Form eine grosse Lust verspüre, mich zu Wortspielereien und Kapriolen anstacheln zu lassen.

Urs Heinz Aerni:
Ihre Sprache kann man mit Haar-Rissen vergleichen, fein aber deutlich. Was sind Auslöser, damit Sie zur Feder und in die Tastatur greifen?

Hofstetter:
Mich interessiert das, was unter der Oberfläche schlummert. Das Aufbegehrende, die Ambivalenz der Gefühle, die ungelebten Träume, die wir Menschen – zum Glück – ja alle haben. Das ist wie bei einem Archäologen, der versunkene Städte ausgräbt, wobei es bei meinen Grabungsarbeiten um Gefühle, um Beziehungen geht, die jederzeit ausbrechen und explodieren können. Deshalb verstehe ich meine Texte ein Stück weit auch als Rebellion: Ich versuche Widerworte zu setzen gegen den Mainstream, gegen die Oberflächlichkeit der Konsumwelt, in der die meisten nur noch als Käuferobjekte angesehen werden und die Mächtigen dem Cashflow und der eigenen Rendite nachjagen.....

Urs Heinz Aerni:
Wobei auch die Figuren in Ihrem Buch ständig angetrieben werden: Sie jagen dem Glück nach, der Liebe, oder – wie es in einer Ihrer Kurzgeschichte heisst – "den Momenten, in denen sie lebenshungrig werden wie nie zuvor"...

Hofstetter:
Figuren wie Amelie und Louis, die in einer meiner Geschichten vorkommen, sind eigentlich ständig liebes- und beziehungshungrig, allerdings in einer Intensität, in der sie scheitern müssen, weil die Nähe der Gefühle sie ins Bodenlose abstürzen lässt. Die Gefühle der beiden zueinander sind zu verschieden, als dass sie sich in einer Beziehung vereinen könnten.

Urs Heinz Aerni:
Wie kamen Sie zum Titel "Splitter"?

Hofstetter:
Der Titel kam auf einer Wanderung mit einem Schreibfreund zustande. Er sagte zu mir: "probiere es mit Splitter". Und die Texte in meinem Buch sind tatsächlich wie Splitter: Es sind Bruchstücke aus dem Alltag, aus dem Leben, die auch die Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit unseres Daseins zum Ausdruck bringen. Nichts hat Gültigkeit, nichts dauert, alles ist im Fluss.

Urs Heinz Aerni:
„Splitter“ ist auch ein Buch für habtisch orientierte Leserinnen und Leser – durch Qualtitätspapier und Gestaltung. Wie fanden die Schwarzweiß-Fotografien den Weg in Ihren Text?

Hofstetter:
Das ist eine Idee meines Verlegers, Martin Weiss. Er hat die Aufnahmen gemacht. Natürlich sind die Fotografien mit den Texten kongruent: Man sieht Menschen, die in einer urbanen, schnellen Welt wie Schemen vorbeihuschen, man sieht ihre flüchtigen Lebensspuren, die einen Sekundenbruchteil lang ins Blickfeld kommen und wieder verschwinden.

Urs Heinz Aerni:
Sie leben und arbeiten in der Stadt. An welchen Orten holen Sie Ihre Inspiration zum Schreiben?

Hofstetter:
Mein Hauptinspirationsort ist die Dachzinne meiner Wohnung. Ich sehe über die Dächer der Stadt und vermute, dass überall und jederzeit Stoff für Geschichten begraben sein könnte: einige Stockwerke tiefer, dort drüben im andern Haus, an der Strassenecke. Das ist gewissermassen mein literarischer Hochsitz.